Die dichterische Schusselei ist ein Problem, das uns beim Übersetzen oft beschäftigt. Was machen wir, wenn da etwas steht, das einfach nicht stimmen kann. Wenn z.B. der Kölner Dom auf der falschen Rheinseite aufragt, wenn jemand im Jahre 2004 beim Umsteigen einige Stunden Aufenthalt hat und einen Spaziergang durch Hamburgs malerische Altstadt macht, wenn ein Deutschlehrer den „Erlkönig“ von Schiller aufsagt … Die Frage ist dann natürlich zuerst, soll es so sein? Hat hier jemand einen phantastischen Roman über eine Parallelwelt geschrieben, in der alles seitenverkehrt ist und der Kölner Dom folglich auf der schääl Sick steht, oder in dem ein gewisser Schiller ebenfalls einen „Erlkönig“ verfaßt hat? Das läßt sich meistens sehr schnell klären, und fast immer ist es ein Versehen. Schusseligkeit eben.
In unseren Fällen: Statt Schiller Goethe zu schreiben, war noch das geringste Problem. Die Sache mit dem Dom ließ sich durch das Verschieben eines Satzes beheben (der Romanheld ruft erst einen Fährmann herbei, läßt sich übersetzen und steht dann ergriffen vor dem Dom, nicht umgekehrt, wie im Originalbuch), das Buch mit der Hamburger Altstadt wurde dann doch nicht übersetzt.
Oft ist die Schusseligkeit offenkundig: Der Held steckt sich eine Zigarette an, um dann eine Seite später an seiner Zigarre zu ziehen. Die Heldin wird mit 16 schwanger, einige Seiten später ist sie 45 und der damals entstandene Sohn 33. Der Mörder heißt auf S. 12 Hans und auf S. 47 dann Franz, ohne eine Namensänderung vorgenommen zu haben. Für die Autorin liegen oft viele Wochen zwischen den beiden Szenen, klar, da vergißt man mal ein Alter oder einen Namen. Aber was machen eigentlich die Lektorate den ganzen Tag?
Was immer die treiben, korrigieren tun sie nicht. Die Frage beim Übersetzen ist dann immer, was tun. Stillschweigend ändern oder anfragen? Aber das mit dem Anfragen ist auch nicht so einfach, man kommt sich leicht besserwisserisch vor, und manch ein Autor mag nicht hören, daß er einen Fehler gemacht hat. Das war so einer: Der eigentlich norwegische Roman spielt in der Schweiz, die Heldin paddelt über einen namentlich genannten Kanal in Zürich. Eine Schweizer Kollegin las das Buch und wies den Originalverlag daraufhin, daß das kein Kanal sei, sondern ein steil ansteigender Weg! Der Autor teilte beleidigt mit, das könne zwar sein, aber er habe den Kanal im Baedeker gefunden. Die Frage ist dann: Lassen wir sie über einen real existierenden Kanal paddeln oder den steilen Weg hochsteigen? Sowas mag man ungern selbst entscheiden, aber wenn der Autor so unwirsch reagiert, was tun?
Noch ein paar Beispiele? Wenn in einem Buch Lee Harwey Oswald in just dieser Schreibweise steht, dann werden wir mißtrauisch. Wenn dort Ruth Leuwerik als Filmregisseurin auftritt, staunen wir (umwerfend, daß ein norwegischer Autor Ruth Leuwerik kennt, aber Regisseurin war sie nun wirklich nicht!). Aber die Haare stehen zu Berge, wenn Stuart Sutcliffe als „Schlagzeuger“ und als Ringo Starrs Vorgänger bei den Beatles bezeichnet wird. Wir möchten einem Autor doch nur ungern sagen, daß er keine Ahnung von den Beatles hat, und aus dem armen Stuart Sutcliffe wieder einen Bassisten machen. Könnten das auch stillschweigend erledigen, aber andererseits, sollte der Autor nicht vielleicht doch wissen, was wir alles ändern?
In diesem Fall hat er nur gelacht! Er war nämlich zu der Zeit, in der das normale Durchschnittskind Grundschulwissen zum Thema Beatles aufsaugt, ein auf Klassik geeichtes Wunderkind und hat seine Beatleskenntnisse erst viel später und sozusagen im Schnelldurchgang erworben.
Meistens lassen sich die Schusselprobleme also lösen, egal, ob der Autor lacht oder mit dem Baedeker droht. Man kann übrigens auch viel lernen. Wenn in einem Buch, das 1872 spielt, steht, daß sich ein Jahr zuvor die deutschen Staaten zum „Kaiserreich Preußen“ zusammenschlossen, glaubt man auch sonst nichts mehr. Als also eine Romanperson nach Moskau reiste und über den Roten Platz spazierte, dachte ich, ha! Und stellte dann fest, der Platz hieß wirklich schon lange vor der Revolution so (dieses Buch erschien übrigens nie auf Deutsch, denn es war unbeschreiblich langweilig).
Unlösbar wird die Sache, wenn der Autor nicht mehr lebt. Wenn eine Frau einmal 92 Jahre alt ist und einmal 72, ihre Schwestern aber 74 und 70, dann können wir annehmen, dass 72 richtig ist. Aber wenn es vollkommen unbegreifliche Konstruktionen sind und wir nicht einmal andeutungsweise verstehen, was der Autor uns sagen will? So einen habe ich gerade. Ein berühmter und berüchtigter norwegischer Klassiker, wo manchen Stellen auch mit Gewalt kein Sinn zu entringen ist. Die norwegischen Gelehrten streiten sich, 50 Jahre nach des Autors Tod, noch immer darum, was er wohl gemeint haben mag. Aber wenn ich so unbegreiflich übersetze, wird es heißen: „Grauenhafte Übersetzung! Wie kann man diesen Klassiker nur so verschandeln!“ Ich dachte glücklich, Rettung in Sicht, als ich feststellte, daß vor 60 Jahren in der DDR eine Übersetzung erschienen ist. Die ist furchtbar schwer aufzutreiben, die einzige Ausgabe, die ich bei Antiquariaten finden konnte, sollte über 100 Euro kosten. Aber dann konnte ich doch ein Exemplar dieses seltenen Buches entleihen und wähnte das Problem schon gelöst. Aber nix. Der Kollege von damals hat wirklich konsequent jede vage, unbegreifliche oder widersprüchliche Stelle aus dem Original weggelassen. So kann man es auch machen. Genauer gesagt: So kann man es nicht machen. Wie ich es machen werde, weiß ich noch nicht, aber ich werde berichten.
Ein Beitrag zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig