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Abenteuer Lesung, 1: Majgull Axelsson – von Christel Hildebrandt

Christel Hildebrandt – Foto © Ebba D. Drolshagen

Wer kommt auf die Idee, am Freitag vor Pfingsten eine Lesung zu organisieren? Aber zur Entschuldigung: So etwas wird zu einem Zeitpunkt festgelegt, an dem noch niemand an schönstes Sommerwetter und 9-Euro-Ticket denkt. Also: Plakate verkünden fröhlich, dass die Übersetzerin aus den Werken der schwedischen Autorin Majgull Axelsson liest. In Bremen. Die Übersetzerin lebt in Hamburg.

Ahnt schon jemand etwas? Mehr als rechtzeitig bricht die Übersetzerin auf, sie ist sich bewusst: Es ist Freitagabend vor Pfingsten, das Wetter das schönste Reisewetter, und seit einer Woche gilt das 9-Euro-Ticket in allen Regionalzügen (in denen es auch nicht möglich ist, einen Platz zu reservieren). Die S-Bahn lässt nichts Böses ahnen, doch dann, beim Aussteigen am Hauptbahnhof: Menschenmassen schieben sich nicht durch das ehrwürdige Gebäude, weil sie sich gar nicht bewegen können. Irgendwann, obwohl nicht gertenschlank und keine entzückenden Siebzehn mehr, kann sie sich bis zur Rolltreppe zum angegebenen Bahnsteig durchkämpfen, doch dann ist endgültig Schluss: Die Bahnpolizei sperrt jeden Zugang.

Was nun? Wie kommt die Übersetzerin zur Lesung? Doch da ertönt eine Lautsprecherdurchsage, der Zug nach Bremen fährt heute ab Gleis 6, und dorthin ist der Weg frei. Hineingestürzt in den ankommenden Zug, den erstbesten Platz ergattert, direkt gegenüber der Toilette, macht auch nichts, Hauptsache ein Sitzplatz. Von ihm aus kann die Übersetzerin bewundernd beobachten, wie drei Kinderkarren und zwei Rollstühle im Eingang des Wagens Platz finden und zu guter Letzt noch ein Bahnangestellter seinen halben Quadratmeter findet. Er hilft nicht nur bei der Abfertigung des Zugs, sondern hat die Aufgabe, die Rollstühle sicher auf Bremer Boden zu bringen.

Insgesamt nur 10 Minuten Verspätung, hurra, der Buchhändler ist vor Ort, frohgemut fahren wir zur Buchhandlung, werden dort von der Buchhändlerin empfangen, der Übersetzerin wird ihr Platz zugewiesen sowie ihre Rolle an diesem wunderschönen lauen Juniabend besprochen.

Und dann harren Übersetzerin und Buchhändler und Buchhändlerin der Dinge, bzw. des Publikums. Es erscheint tatsächlich, in Form zweier freundlicher älterer Damen, die ihre Pläne laut ihren Erzählungen geändert hatten und nun doch nicht über Pfingsten fortgefahren sind.

Bremen 2022, Logbuch-Verlag
Hamburg 2017, List TB

Es wird trotz allem ein schöner Abend, die Übersetzerin liest, erzählt über die Autorin, ihre phantastischen Bücher, die Zuhörerinnen stellen Fragen, erzählen von eigenen Erlebnissen, alle sind zufrieden, bestätigen sich nur, dass es gern mehr ZuhörerInnen hätten sein können – bei so einem interessanten Thema.

Buchhändler und Buchhändlerin bedanken sich, gemeinsam mit der Übersetzerin geht es zum Italiener, dann ist es schon Zeit für den Zug nach Hamburg. Nach den Erfahrungen der Hinfahrt möchte die Übersetzerin lieber den ICE um 22.33 Uhr nehmen, für den das 9-Euro-Ticket nicht gilt. Eine vernünftige Entscheidung, wie der Buchhändler findet, worauf er sie zum Bahnhof bringt und es den beiden mit vereinten Kräften gelingt, dem Automaten ein Ticket abzuluchsen.

Ob es das richtige war, werden wir nie erfahren. Denn ohne jede Emotion und ohne jedes Zeichen des Bedauerns verkündet die Anzeigetafel, dass der ICE um 22.33 Uhr ausfällt – einfach so, ohne jeden Kommentar. Aber es fährt noch ein Zug um 23.32 Uhr, wie wäre es damit? Die Übersetzerin überzeugt den besorgten Buchhändler, dass sie problemlos die Stunde auf dem Bahnsteig verbringen kann … „Wenn das nicht klappt, ruf an, dann kannst du bei uns übernachten.“

Vorsorglich hat die Übersetzerin ein Manuskript zum Korrigieren dabei, sie will die Zeit ja nicht verschwenden. Dann, es geht auf 23.20 Uhr zu, und sie hat schon einiges geschafft, eine Bahnhofsdurchsage, und diese wird ungelogen in gleicher Form sieben Mal wortwörtlich wiederholt: „Es hat Einfahrt der Zug von Hamburg Hauptbahnhof. Er fährt nach kurzem Halt zurück nach Hamburg Hauptbahnhof über Hamburg Harburg.“

Wer wollte hier noch zweifeln oder zögern? Denn genau dorthin will die Übersetzerin ja. Und warum dann auf den nächsten Zug warten?

Sie steigt in den erstaunlich leeren Zug ein, nun ja, um diese Uhrzeit. Doch verblüffenderweise entpuppt sich der nächste Halt nicht als Hamburg Harburg, sondern als ein Vorort von Bremen. Und so geht es weiter, von einem niedersächsischen Dorf zum nächsten.

Um 1.30 Uhr öffnet die Übersetzerin erschöpft ihre Haustür – aber schön war es doch!

Ein Beitrag zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig


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Evelyn Kuttig

Evelyn Kuttig

Ich arbeite(te) als Grafikdesignerin, Projektmanagerin, Rechercheurin, Redakteurin und Texterin. – Das Blog enthält Berichte aus meinem Arbeitsalltag und Gastbeiträge aus vielfältigen Arbeitsfeldern, die zur Entstehung von Büchern beitragen. – Auch im Ruhestand stehe ich Interessierten mit meinen vielseitigen Kenntnissen und Erfahrungen und psychologischem Gespür immer noch gerne mit Rat und Tat und Empfehlungen zur Seite.

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