Mit Worten und Farben spielen
Mein Büchlein … zarte takte tröpfelt die zeit (Gedichte. Nordpark Verlag Wuppertal, 2015) erschien, wenn man so will, mit einer Verspätung von fünfzig Jahren. Denn als etwa Achtjährige arbeitete ich längst an meinem ersten Buch. A5 quer. Gedichte kannte ich zwar noch keine, höchstens ein paar Reime, die mich nicht weiter interessierten. Dafür sammelte ich Wörter, Bezeichnungen, Namen – komische wie „Milchmanns Stolz“ (ist ein Käse – notierte ich zur Erklärung) oder klangvolle wie Clematis oder Silo. Gesäumt wurden diese Textfragmente durch sonderbare amöbenhafte Gestalten mit Gesichtern und Streifenhemden. Daneben sammelte ich Farben; malte immer wieder dasselbe Muster in zufällig geangelten Farb-Stift-Konstellationen (Aleatorik sagt man dann später, wenn man erwachsen ist) oder versuchte, die Farben der Wochentage oder meines Namens zu mischen. Natürlich in den Näpfchen des Farbkastens, Farbe auf Farbe, nicht etwa in den dafür vorgesehenen Mulden. Keine Farbe war mehr im reinen Urzustand. Ab und zu sah ich auf die Birkenbuche am Fenster vor meinem Schreibtisch und merkte, dass mich Übergänge, Sowohl-als-auch-Zustände, Mischformen interessierten. Ich notierte und probierte – wie gern hätte ich mich in Wort und Bild dem gesamten Kosmos genähert. Mein Buch nannte ich, nach langen Namensfindungsprozessen, „Yeru“. Das klang mir zwar eigentlich zu gelbgrün, andererseits musste etwas sein, das es noch nicht gab und das einigermaßen Geheimnisvolles versprach. Ich wollte sammeln und sammeln, und irgendwann sollte es, natürlich, veröffentlicht werden – aber … Selbstdistanz ist gut, leider nicht immer gut. Denn irgendwann gefiel mir meine Drittklässlerkrakelschrift nicht mehr, und es tat sich die Erkenntnis auf, dass Wochentage in Wirklichkeit farblos sind – und Buchstaben eben die Farbe haben, in der sie geschrieben sind. Damit war das erste Buchprojekt gestorben. Yeru kam in den Müll.
Und ich las Hanni und Nanni – weil man das eben so machte.
Andererseits begann ich, Gedichte zu lieben. Unser Deutschlehrer, den wir alle von Herzen mochten und der es tatsächlich schaffte, lebenslange Spuren bei uns zu hinterlassen, las uns unter anderem mit seelenvoller Stimme Ringelnatz’ Gedicht „Ich habe dich so lieb“ vor – und das „alles, was lange währt,/ist leise“ hallt bei mir noch immer nach, wie eine Headline für alle Poesie. Vielleicht weil er mir den Einstieg in die Lyrik bot, gehört Ringelnatz bis heute zu meinen Lieblingsdichtern, vielleicht aber auch, weil diese Verbindung von Sanftheit und Blödsinn so ganz meine ist.
Und jedes Mal war ich diesem Deutschlehrer hochdankbar, wenn er – trotz mangelnder Kundschaft, niemand außer mir mochte Gedichte – ein lyrisches Thema im Angebot hatte. Leider mochte er meine Neologismen nicht, die er so leidenschaftlich beschlängelte und tilgte wie ich sie schuf. Wortluftballons, schön bunt und prall, mit extrem kurzer Lebenszeit – plopp. Während ich mir trotzig vornahm, meine Worterfindungen keinesfalls in der Mülltonne zu belassen, spürte ich leider auch, dass mein Lehrer nicht immer unrecht hatte, vor allem, wenn er mir belustigt mangelnde Logik vorwarf.
„Dunkel war’s, der Mond schien helle, als ein Wagen blitzeschnelle/ langsam um die Ecke fuhr“ – hatte mich nämlich geprägt. Der Text war für mich immer plausibel gewesen. Erst beim totgeschossenen Hasen begann ich kurz stutzig zu werden, der konnte ja eigentlich nicht mehr Schlittschuh laufen. Aber das Bild der Leute, die stehend sitzen, habe ich heute noch in meinem Kopf und finde nichts dabei. Natürlich habe ich es vermieden, solche Vorkommnisse in Seminararbeiten unterzubringen.
Inzwischen meldeten sich die Wochentage, Namen, Buchstaben und Zahlen ständig in den schönsten Farben zurück. Zwar wusste ich, dass das eigentlich gar nicht geht, musste aber klein beigeben – und ich beschloss, in friedlicher Koexistenz mit dieser Verrücktheit zu leben. Man musste ja nichts davon weitererzählen. Wenn es nicht schlimmer werden würde – was ich natürlich nicht wusste, ich konnte nur gegenhoffen – war es sogar etwas zum Freuen. Telefonnummern erschienen als wunderbare Koloraturen, genauso wie alle Termine, die ich als Farbgirlande wunderbar im Kopf behalten konnte, ohne einen Kalender benutzen zu müssen. (Den legte ich mir erst 2003 zu, als ich die Organisation von Ausstellungen übernahm, da wollte ich mich nicht mehr allein auf Farbfolgen verlassen.) Und Mathe machte Spaß, weil es ein Regenbogenfach war. Und, mehr noch, die x-Achse war angenehm warm, die y-Achse angenehm kühl, so dass ich die beiden nie verwechselte, vielmehr das warmkalte Wechselbad mit den bunten Zahlenblubberbläschen in ausgesprochener Weise genießen konnte.
Das Sinnen-Phänomen – Selbsterkenntnis Synästhesie
Erst in meinem Studium entdeckte ich – eher zufällig –, dass dieses Sinnen-Phänomen einen Namen hat und gar nicht so selten ist: Man spricht von Synästhesien. Bei manchen (realen) Sinnesreizen, die bestimmte Wahrnehmungen hervorrufen, werden gleichzeitig weitere Sinnesempfindungen „zugeschaltet“. Endlich eine Erklärung dafür, dass es mir unmöglich war, Tischtennis zu spielen, weil mir das Klack-klack-Geräusch des Balls ständig den Geschmack von Fleischbrühe auf die Zunge legte. Über solche Dinge hatte ich natürlich hartnäckig geschwiegen, welcher Lehrer hätte sich schon damit auskennen können. Leichtathletik – statt Tischtennis – war ja auch ganz nett. Etwas schade fand ich allerdings festzustellen, dass mein Yeru-Heft ziemlich richtig lag. Nun war es gewolft, gewässert, verbrannt, was weiß ich.
Gedichte schrieb ich noch keine, ich las aber viele, natürlich auch welche, die mir nicht gefielen. Und dann kamen Gedanken wie: Ich würde das-jetzt-aber-so-und-so-machen. Wenn ich schriebe. Wenn ich dürfte (oder so).
Und da es mir ja nicht wirklich jemand verboten hatte, wagte ich mich irgendwann an die ersten lyrischen Versuche. Obwohl ich einige Menschen kannte, die das Gedichteschreiben ohne Blessuren überlebt (und leider wieder damit aufgehört) hatten – und obwohl es meinem musikalischen Vater sicher gefallen hätte, blieb ich mit meinen Texten allerdings erst einmal in sicherer Distanz zu möglichen LeserInnen, sprich: Ich arbeitete für die so berühmte wie nichtberühmte Schublade. Nur meine beste Freundin durfte meine Erstlinge sehen. Sie meinte auf ihre typisch-trockene Art: „Ist Mist. Aber bleib dran.“ Über meine inneren Farbwelten wusste sie auch Bescheid und nahm meine Kurzberichte darüber mit interessierter Verwunderung zur Kenntnis.
Bis sie mir eine Ausgabe des Stern zukommen ließ – „deine Wochentage haben doch auch Farben!“ –, in dem über das Phänomen der Synästhesie ausführlich berichtet wurde, auch über die Forschung vor allem an der Medizinischen Hochschule Hannover: Man konnte sich einen Fragebogen schicken lassen – Downloads gab’s (um 1999) noch nicht oder waren viel zu selten –, und wenn man diesen Zettel ehrlich ausfüllte, konnten die Forschenden ermitteln, ob man – mit einiger Wahrscheinlichkeit – zu den SynästhetikerInnen zählt oder nicht. Wenn ja, wurde man eingeladen zu verschiedenen Treffen und zu verschiedenen Projekten. Was beispielsweise zur Folge hatte, dass mich ein Team des WDR besuchte, um für Quarks & Co zu drehen – ein lustiger Nachmittag übrigens. Unter anderem saßen die freundlichen Menschen in meinem Garten und nahmen Chips-Essgeräusche auf. Leider, leider ist die Sendung im Internet nicht zu finden – dieses war, wie gesagt, damals noch nicht so weit. Wie gern würde ich noch einmal sehen, wie ich den Quarks erläutere, dass meine Kinder alle Namen in meiner Lieblingsfarbe haben, jenem Rot, das ich ganz früher aus Zinnoberrot und Karmin zusammengemischt hatte. Im Farbnäpfchen.
Mein Sichtbar-Lesbar-Werden
Die wesentliche, weiter führende Einladung bekam ich einige Jahre später, es wurden Textbeiträge für eine Veröffentlichung gesucht (AM 12/ Sinne Hrsg. Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, 2006). Ich nörgelte herum, dass ich sooo gern Kunst einschicken würde, aber ätsch, davon haben sie doch selbst genug – konnte ich mir ja eigentlich denken. Es musste ein Text sein, Genre egal, auch Lyrik sei willkommen. Genervt warf ich das Papier in den Müll – vom aktuellen Stand der Forschung hatte ich keinen Schimmer, und wer will schon wissen, dass „mein“ Samstag rosa ist (oder halt der Donnerstag spinatgrün).
Aber da hatte doch was von einem Gedicht gestanden? Also: Zettel wieder entknüllt. Hier wäre es ja ganz und gar sinnvoll, ein Gedicht beizusteuern … so arbeitete es in meinem Hirn. Ich ließ es entstehen, sägte und feilte – und schickte es erst einmal auf einen Umweg, hin zu meinem mittlerweile betagten Deutschlehrer. Der war einverstanden, was mir einen gehörigen Motivationsschub gab (ich hatte, noch ganz Schülerin – was war ich denn auch anderes mit meinem lyrischen Gemurkse –, mächtige rote Girlanden erwartet).
Und all das addierte sich zu einer Art „Tritt in den Hintern“, seitdem schreibe ich Gedichte. Manchmal täglich eins, manchmal eins monatlich.
Und ich hatte das Glück, nach vielen Anthologie-Veröffentlichungen und vielen Jahren des Sammelns, einen kleinen Verlag für eine eigene Publikation zu finden. Nur mit dem Titel „Yeru“ wäre er wohl nicht einverstanden gewesen.
synästhesie
in meinem ziffernballett
trägt jede ein anderes hemd
die fastweiße eins
tippt die blaue drei
mit dem finger an
die knallrote vier
reckt sich in den himmel
und hält distanz
zur schüchternen grünen fünf
ich fülle so gern formulare aus
in jedes feld
male ich eine farbe
Ein Gastbeitrag zum Thema „Buchherstellung“, Evelyn Kuttig