Der Sozialwissenschaftler Davide Brocchi, der als Forscher, Publizist, Begleiter und Mitgestalter von partizipativen Transformationsprozessen in Richtung Nachhaltigkeit tätig ist, ist diesmal zu Gast in meiner Interviewreihe mit Buchmenschen, mit denen ich zusammenarbeite. Kürzlich hat er seine Dissertation abgeschlossen und als Buch veröffentlicht. Wir sprechen über den Weg dorthin und was er als nächstes plant.
Worum geht es in Deinem Buch und wie bist Du auf dieses Thema gekommen?
Titel des Buchs ist „By Disaster or by Design?“. Ob sich eine große Transformation in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ereignen wird, diese Frage stellt sich heute nicht mehr: Wir sind bereits mittendrin. Die offene Frage ist nur, wie sich diese Transformation ereignen wird. Gegenwärtig zeichnet sich ein Weg zum Kollaps ab, dafür ist die „multiple Krise“, die SozialwissenschaftlerInnen seit Jahren diagnostizieren, eine Warnung.
Im ersten Teil des Buchs betreibe ich Ursachenforschung, denn die heutigen Krisen sind nicht zufällig, sondern das Ergebnis der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Um zur Nachhaltigkeit zu gelangen, muss zuerst die Nicht-Nachhaltigkeit überwunden werden.
Im zweiten Teil des Buchs geht es um Visionen einer anderen Entwicklung jenseits von Wirtschaftswachstum und Massenkonsum. Nachhaltigkeit verstehe ich dabei weit statt eng, nämlich auch in Bezug auf die Frage nach dem guten Leben.
In diesem Diskurs stellt das Buch die soziale und die kulturelle Dimension heraus. Wenn die Umweltkrise das Ergebnis von innergesellschaftlichen Verhältnissen ist, dann müssen diese transformiert werden. Auf den Punkt gebracht: Das Elektroauto allein wird uns nicht retten, die Aufgabe ist eher eine soziale und kulturelle als eine der technologischen Innovation.
Dies ist nicht Deine erste Veröffentlichung zum Thema Transformation und Nachhaltigkeit. Welche Bücher von und mit Dir gab es bereits vorher, und worum geht es darin jeweils?
Die ersten Bücher „Urbane Transformation“ (2017) und „Große Transformation im Quartier“ (2019) handelten von Transformationsprozessen im Lokalen. Darin ist auch die Reflexion über meine persönlichen Erfahrungen in urbanen Quartieren in Köln und Berlin enthalten, wo ich den „Tag des guten Lebens“ initiiert habe und Jahre lang an den partizipativen Prozessen mitgewirkt habe.
In „Große Transformation im Quartier“ habe ich sechs bürgerschaftliche Quartiersinitiativen in Bonn, Köln und Wuppertal untersucht und verglichen. Manche setzen sich gegen Investorenprojekte ein, andere fördern eine positive Entwicklungsdynamik im Quartier, auch im Sinne des guten Lebens.
Ich habe mich gefragt, welche Menschen in solchen Initiativen arbeiten, mit welcher Motivation und mit welcher Vision von Stadt. Was sind die Herausforderungen solcher Initiativen, wie organisieren sie sich, mit welchen Ressourcen und welcher Wirksamkeit arbeiten sie? Für das Buch habe ich lange Interviews mit den InitiatorInnen geführt. Mich hat interessiert, wie gelebte Demokratie funktioniert (oder auch nicht).
2019 habe ich ein weiteres Buch bei Springer veröffentlicht: „Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit“. Der Untertitel: „Warum es keine Nachhaltigkeit ohne Gerechtigkeit geben kann“.
Wie lief der Schreibprozess der Dissertation ab, und wie lange hast Du insgesamt dafür gebraucht? Was waren dabei die größten Hürden?
Ich bin etwas älter, und gefühlt war dies der zehnte Versuch zu promovieren. In meiner Schublade lagen schon einige unfertige Manuskripte.
Es ist sehr schwer, eine Dissertation „nebenbei“ zu schreiben. Man verliert oft den Faden, und es braucht viel Zeit wieder einzusteigen. Dann kommt aber schon der nächste Job, man muss ja Geld verdienen. Irgendwann verliert auch ein Doktorvater oder eine Doktormutter den Glauben, sodass die Betreuung abnimmt.
Gerade weil sich Themen wie Transformation und Nachhaltigkeit auf eine große Komplexität beziehen, benötigt ihre Erforschung eine starke inhaltliche Eingrenzung und Fokussierung. Die Betreuung muss paradoxerweise die Leidenschaft des Doktoranden ausgleichen, denn sonst verliert man sich ständig im Thema.
Warum hat es dieses Mal geklappt? Drei Faktoren kamen zusammen: Ich habe einen tollen Doktorvater kennengelernt, der mich sehr stark motiviert, mir Deadlines für die Abgabe der Kapitel gesetzt und diese sofort kommentiert hat. Dadurch habe ich immer besser gelernt, das nächste Kapitel anzugehen, ohne mich zu verlieren.
Der zweite Glücksfall war die Freizeit durch die Corona-Krise, weil ich mich endlich auf die Aufgabe konzentrieren konnte. Drittens habe ich hier und da auf den unfertigen Manuskripten in meiner Schublade aufbauen können.
Wie entsteht dann aus einer Dissertation ein Buch? Wieviel darf/muss man nochmal daran ändern, und wie unterscheiden sich beide voneinander? Wie lange hat das Anpassen gedauert?
Man muss einen Verlag finden. Manche Verlage veröffentlichen jede Dissertation, wenn man bereit ist, zwischen 3.000 und 8.000 Euro zu zahlen. Durch meine anderen Veröffentlichungen hatte ich schon einen persönlichen Kontakt, um weitere Kosten zu vermeiden.
Die Dissertation zielte darauf, endlich eine wissenschaftliche Station im universitären Betrieb zu erreichen und eine Prüfung zu bestehen. Man ist nicht wirklich frei, auch weil ein Doktorvater eigene Vorstellungen hat. Ich habe die Abgabefrist für die Verteidigung nicht verpassen wollen, der Doktorvater fand die Arbeit gut genug, also habe ich das Manuskript im Juni 2021 eingereicht, im Dezember war die Verteidigung.
Als ich den Verlag gefunden habe, waren schon einige Monate vergangen. Durch den Abstand habe ich das Manuskript mit anderen Augen gelesen, als kritischer Leser. Schon dadurch merkte ich, dass die Arbeit noch reifen musste.
Es war also die eigene Ambition als Autor, die dazu geführt hat, dass ich bis zur Veröffentlichung noch sehr viel Arbeit reingesteckt habe. Was ich veröffentlicht habe, war zum großen Teil gekürzt, umgeschrieben oder neu geschrieben worden.
Vor allem das Buch „Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit“ hat sich bei Springer gut geschlagen. Dadurch hat man bei einem neuen Werk einen anderen Stand. Der Verlag selbst hat also investiert und an ein gutes Ergebnis geglaubt.
Welche Tipps hast Du für andere, die diesen Weg noch vor sich haben?
Man braucht eine innere Leidenschaft und Neugierde für die Forschung, aber viele schauen vielleicht mehr auf den Doktortitel und den entsprechenden Status. Das ist nicht unbedingt verkehrt in einer Gesellschaft, in der man sich ständig selbst optimieren muss, um im Geschäft zu bleiben.
Ein leidenschaftsloser Umgang hat den Vorteil, dass man effizienter und pragmatischer mit der Aufgabe umgeht. Wenn man die Promotion geschafft hat, merkt man nämlich, dass selbst diese überschätzt wird. Auch die Universität ist eine Megamaschine, die ständig AkademikerInnen, Studien und Publikationen produziert. Man ist nur einer von vielen, es ist wieder ein Buch unter vielen.
Für mich war das jedoch ein zusätzlicher Grund, aus einer inneren Motivation die Arbeit zu schreiben, als Zwischenbilanz in der Auseinandersetzung mit großen Fragen, die mich schon lange beschäftigen und noch lange beschäftigen werden.
Wichtig ist auch die soziale Umgebung, die Hilfe und die Feedbacks von Bekannten und FreundInnen zum Beispiel. Du hast mich zwei Jahre lang begleitet.
Ein ähnliches Buch hast Du gerade in Deiner Muttersprache in Italien veröffentlicht. Wie unterscheiden sich die beiden Bücher und warum?
Das Buch in Italien habe ich frei geschrieben, nicht als Dissertation und ohne Betreuung. Ich habe mich durch die aktuellen Entwicklungen anregen lassen: Der Krieg in der Ukraine und die angespannte Weltlage bereiten mir große Sorgen. Nach zwei, drei Monaten hatte ich das Manuskript fertig.
Ich lebe seit 30 Jahren in Deutschland, in Italien habe ich kaum Kontakte mit Universitäten und vor allem nicht mit Verlagen. Zum Glück hat sich eine Professorin der Universität in Rom für das Manuskript begeistert. Sie verantwortet die Reihe „Soziologie“ für einen Verlag in Mailand.
Die Überschneidungen zwischen dem italienischen und dem deutschen Buch betreffen vielleicht 30 Prozent der Inhalte.
Veröffentlichst Du darüber hinaus auch noch Beiträge in anderen Medien?
Ja, manchmal in Fachzeitschriften oder Online-Medien.
Hast Du bereits begonnen, die Ansätze in Deinem Buch in neue Projekte umzusetzen?
Manche Aspekte aus dem Buch würde ich gerne weiter vertiefen, vielleicht im Rahmen eines Postdoc.
Zum Beispiel die Rolle der Massenmedien in der Steuerung moderner Gesellschaften, denn sehr viel, was wir im Alltag über Politik, Klima oder Krieg erfahren, kommt über das Fernsehen, die Tageszeitungen oder das Internet.
Auch Faktoren wie Vertrauen und Misstrauen spielen in Transformationsprozessen eine wichtige Rolle. Schon allein in einer Straße lassen sich das Zusammenleben und die Demokratie nicht unbedingt leicht gestalten – und diese Herausforderung beschäftigt mich.
Neben der Wissenschaft brauche ich immer einen Fuß in der Praxis. Nach der Corona-Krise und der Dissertation nehme ich mir gerade die Zeit, Netzwerke zu pflegen. Ich bewege mich mit offenen Augen, wo ich hängen bleibe, weiß ich noch nicht.
Würdest Du sagen, dass es für die Umsetzung Deiner Projekte vorteilhaft ist, Bücher dazu veröffentlicht zu haben? Und hilft eine Dissertation noch mehr als die bisherigen Bücher?
Es gibt schon sehr viele Bücher und für jedes Buch müssen Bäume ihr Leben lassen. Was hat sich durch die vielen Bücher geändert? Wo stehen wir heute? Es ist eine berechtigte Frage, die ich selbst in meiner Forschung behandle.
Diese Frage kann ich mir jedoch auch über die Kunst und die Wissenschaft stellen: Brauchen wir weitere Malereien, Skulpturen, Romane, Filme und Songs? Brauchen wir weitere Studien über Nachhaltigkeit? Oder ist alles auch nur Massenproduktion und Massenkonsum?
Gleichzeitig hat auch die Praxis Grenzen. Transformationsprozesse leiden immer wieder an einem gewissen Aktionismus und an Projektitis, sodass man sich im Kreis dreht. Es werden auch in der Praxis viele Ressourcen verschwendet, ohne dass wir wirklich vorankommen.
Ich versuche in meinem Leben Theorie und Praxis zu verbinden, weil ich die Transformation als individuellen und kollektiven Lernprozess gestalten will, jenseits der industriellen Wiederholung.
Das Schreiben und die Forschung dienen mir dazu, dass ich dann mit einem anderen Geist wieder in die Praxis gehen kann. Es freut mich aber, wenn meine Bücher auch andere Personen interessieren und sie in ihrer Arbeit unterstützen können.
Wenn die Bücher gut genug sind, bekommt man Einladungen als Referent. Wenn die Vorträge gut genug sind, kann man sich als Publizist über Wasser halten.
In unserer Gesellschaft ist aber ein Buch schon nach ein oder zwei Jahren alt. Da kann man als Autor und Experte schnell aus dem Wissensmarkt ausscheiden, wenn man nichts Neues anzubieten hat. Die Konkurrenz fehlt nicht, was in Bezug auf Nachhaltigkeit auch gut ist. Manche dieser AutorInnen arbeiten bei festen Einrichtungen, wodurch sie dann vielleicht weniger Freiheit haben, dafür aber mehr finanzielle Sicherheit.
Wenn Du etwas am Entstehungsprozess von Büchern verbessern könntest, was wäre das?
Gute Frage …
Siehst Du Unterschiede zwischen dem Autorsein in Deutschland und dem in Italien?
Menschen in Italien schauen mehr fern und lesen weniger. Es ist dort schwerer, die Aufmerksamkeit mit einem Buch anzuziehen. Und meine Heimat ist schon lange woanders. Seit zwei Jahrzehnten spreche ich im Alltag zu 98% Deutsch (oder eine ähnliche Sprache), nur in meinen Träumen verfolgt mich meine Mutter immer noch auf Italienisch (lacht).
Das Potenzial meines Blickwinkels als Migrant ist der Perspektivenwechsel. Was in Deutschland für viele selbstverständlich ist, schaue ich mir mit den Augen eines Ethnologen an.
Wo findet man Dich am besten online?
Auf meiner Website: https://www.davidebrocchi.eu
Vielen Dank für Deine Antworten, Davide. 🙂
Foto © Teona Gogichaishvili
Ein Beitrag zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig