Danke an Evelyn Kuttig, dass ich hier als Gastautorin tätig werden darf. Als treue Followerin in Sachen #einRadfuerKai und #teamsutsche hatte sie mir schon einmal die Gelegenheit gegeben, die folgende Geschichte hier zu veröffentlichen, die ich nun aktualisiert habe:
Wenn jemand sagt, dass dieses Internet nichts mit dem „realen Leben“ zu tun hätte, dann erzähle ich gern folgende wahre Geschichte:
Zwei Lovestorms für Kai
Es dürfte wohl kaum einen Netzmenschen geben, der im Mai 2015 nichts von der Aktion #einBuchfuerKai mitbekommen hätte. Die Spendenkampagne von Johannes Korten zugunsten der Familie des Autors von „Willkommen im Meer“, Kai-Eric Fitzner, zog sogar Kreise über das Web hinaus in die Print- und Rundfunkmedien. Die Geschichte des Oldenburger Schriftstellers, der nach einem schweren Schlaganfall im Koma lag, gelangte auch zu mir. Und da ich die gleiche Grunderkrankung habe, die bei Kai zu dem Schlaganfall geführt hat, reihte ich mich in die Schar der Unterstützer ein. Als solcher bekam ich fortan Nachricht, wenn sich bei Kais Genesung etwas tat, erfuhr also von Aufwachen, Reha und den ersten mühsamen Schritten zurück in den Alltag.
Im Dezember 2016 schließlich erreichte mich die Frage, ob denn jemand wüsste, wie man über die Krankenkasse ein Spezialrad für Kai finanzieren könnte. Da das genau in die Expertise meines Mannes Thomas fällt, meldete ich mich. Leider musste Thomas berichten, dass so etwas nicht von der Krankenkasse unterstützt wird. Stattdessen kamen wir auf die Idee, es mit einem Crowdfunding zu versuchen. Anfang 2017 musste also zunächst einmal geklärt werden, wie und wo so ein Crowdfunding stattfinden sollte. Glücklicherweise konnte ich dafür einen ehemaligen Kunden, den Rollstuhl-Tischtennisspieler Holger Nikelis, mit ins Boot holen. Der mehrfache Paralympicsieger und Weltmeister hatte sich nach Beendigung seiner Sportlerkarriere mit sport grenzenlos, einer gemeinnnützigen GmbH, selbständig gemacht, die u.a. inklusive Sportprojekte fördert.
Digital kommunizieren
Während Holger sich nun also in Sachen Crowdfunding schlau machte, stellte ich fest, dass es in Kais Blog seit dem Schlaganfall keine Updates gegeben hatte. Auf meine Frage, ob wir da nicht mal auf Stand kommen sollten, ließ Kai mir begeistert grünes Licht geben. So starteten die ersten direkten Facebook-Chats zwischen uns, denn Kai musste mir ja erst mal einen Zugang einrichten. Das Problem dabei: Kai hat durch den Schlaganfall Aphasie, eine Störung der Verarbeitung von Sprache. Das äußert sich darin, dass sowohl das Verstehen von Sprache als auch das Sprechen gestört sind, Lesen und Schreiben war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht möglich. Während ich also versuchte, meine Fragen möglichst einfach und kurz in Sprachnachrichten zu fassen, konnte Kai mir ausschließlich mit Emojis antworten.
Das reichte jedoch bald nicht mehr, also fingen wir Mitte Februar an zu skypen. Und da klickte es dann erst richtig zwischen uns. Obwohl ihn das sehr anstrengte und er sich nur stockend und stichwortartig am Gespräch beteiligen konnte, kamen wir vom Hölzchen aufs Stöckchen und setzen das von da an täglich fort. In seinem Blog wurden die Leser derweil über seine ganze Geschichte von mir informiert und im März startete schließlich das Crowdfunding #einRadfuerKai, das in nur 50 Stunden die benötigte Summe erzielte, um Kai das Spezialrad zu finanzieren. Doch diesmal konnte Kai das live miterleben. Ein hochemotionales Erlebnis, das alle Beiteiligten schwer beeindruckt hat.
Von digital zu analog
Nach dem Crowdfunding dokumentierte ich in seinem Blog weiter die Ankunft des Fahrrads und die weiteren Fortschritte von Kai, der nun auch anfing, allein mit dem Zug zu verreisen. Sein Ziel: Bonn, zu Annette und Thomas. Auch analog bestätigte sich sofort die Verbindung, die wir online schon gespürt hatten und #teamsutsche wurde geboren („sutsche“ ist friesisch und bedeutet soviel wie langsam, gemütlich, immer mit der Ruhe).
Da Kai sein Rad nicht mitbringen konnte, gingen wir eben soweit möglich am Rhein spazieren. Ich hatte kurz zuvor erst eine Medikamentenumstellung überstanden, durch die ich nun nach Jahren, in denen ich mich überhaupt nicht anstrengen konnte, wieder erste Schritte nach draußen machen konnte. Kai wiederum ist durch die schlaganfallbedingte halbseitige Lähmung im Gehen eingeschränkt. So zuckelten wir also ganz sutsche zusammen los, genossen die Frühlingssonne und lange Gespräche, bei denen Kai sich immer besser einbringen konnte. Denn unser Skypen, so sagte seine Logopädin, habe bei ihm Schleusen geöffnet. Kai hingegen nannte mich „Katalysator“, was auch eines der ersten langen Worte war, die er korrekt aussprechen konnte.
Mehr analog und weiter digital
Nach seinem ersten, viel zu kurzen Besuch war klar, dass es das nicht gewesen sein konnte. Zu viele Ideen, was wir noch alles machen könnten, waren angestoßen worden, und so eng war das Verhältnis zwischen Kai, meinem Mann Thomas und mir bereits geworden. Thomas ist durch eine Tetraplegie ebenfalls in seiner Beweglichkeit eingeschränkt und kann vieles nur mit einer Hand machen, weil er sich mit der anderen am Rollstuhl festhalten muss. Dadurch konnte er Kai Tipps geben, wie er auch mit einer halbseitigen Lähmung, also nur mit einer Hand, z.B. wieder kochen kann. Die beiden verstanden sich ebenfalls auf Anhieb und so war klar, dass Kai bald wiederkommen musste.
Unterdessen skypten wir täglich weiter und begleiteten einander auch in schwierigen Situationen. Bei Kais zweitem Besuch machten wir eine Fotosession, die uns beiden helfen sollte, den alten und den neuen Kai zu erkennen, und ich erhielt Zugang zu ersten Fitznerschen Manuskripten, die noch auf Fertigstellung warten. Kais dritter Besuch erfolgte direkt nach Erhalt des Vorabexemplars seines zweiten Romans „Krumme Dinger“, den der Verlag aus einem von Kais Manuskripten zusammengestellt hat. Da Kai zu diesem Zeitpunkt noch arge Schwierigkeiten mit dem Lesen hatte, brachte er das Vorabexemplar zu uns, und wir lasen es ihm vor. Kurz vor Kais geplantem vierten Besuch stürzte er und brach sich den Oberarmknochen. Aber auch das hielt ihn nicht davon ab, direkt nach dem Krankenhaus zu uns zu kommen, wo wir uns gemeinsam um seine Genesung kümmerten und uns selbst in vier Wochen engster WG nicht ein einziges Mal ernsthaft in die Haare kriegten. Dazwischen immer wieder kleine und große Fortschritte, die gebührend gefeiert wurden.
Gescheitert…?
Durch all diese Erlebnisse waren wir einander sehr schnell sehr nahe gekommen. Wir besuchten einander sehr oft, fuhren sogar zusammen in Urlaub nach Paris. Es ist schwer, in Worte zu fassen, was da mit uns passierte: Wir waren mehr als Freunde, fast schon Familie. Beinah wären Thomas und ich sogar nach Oldenburg gezogen, was jedoch im letzten Moment scheiterte. (Auch wenn es zu dem Zeitpunkt eine große Enttäuschung war, so entpuppte es sich schließlich als Glück, denn unser Umzug wäre sonst mitten in die Corona-Pandemie gefallen.)
Was Anfang 2019 ebenfalls scheiterte, war unsere Freundschaft mit Kai, der in Oldenburg an jemanden geraten war, der ihn sukzessive von seinem kompletten Leben abzuschneiden versuchte. Er meldete sich von seinen Profilen in Social Media ab, entließ mich als Chronistin aus seinem Blog und war generell nicht mehr wiederzuerkennen. Als er schließlich selbst merkte, was da mit ihm geschah, war es schon zu spät: Wir und auch viele seiner Freunde vor Ort hatten den Kontakt mit ihm abgebrochen.
Digitaler Neuanfang
Erst ein dreiviertel Jahr später, nachdem er langsam wieder in sozialen Netzwerken aktiv wurde, begann eine vorsichtige Wiederannäherung mit uns. Mit dem Sprechen und Verstehen hatte Kai etwas Fortschritte gemacht. So konnte er uns erklären, was mit ihm geschehen war: Nach einem Schlaganfall erwacht man quasi im Zustand eines Neugeborenen und muss noch einmal neu erwachsen werden. Allerdings in wesentlich kürzerer Zeit als normalerweise. Dabei gehen alte Bindungen oft kaputt, während neue sehr schnell sehr eng werden können und von großer Abhängigkeit geprägt sind. So auch bei uns. Was wir mit ihm erlebt hatten, könnte vielleicht mit Pubertät und heftigem Abnabeln verglichen werden. Erst später, als neuer Erwachsener, konnte die Verbindung wieder geknüpft werden.
Mit dem Lesen und Schreiben klappt es mittlerweile zwar besser, aber noch nicht gut genug, um selbst Texte zu verfassen. Also arbeitet Kai zunächst seine alten, noch unveröffentlichten Manuskripte ab. Das erste davon hat er im November 2019 selbst auf amazon veröffentlicht: Es ist der Anfang der Pentalogie „Der Seelensammler“ mit dem Titel „Tränen eines Gottes“. Die weiteren vier Bände der Fantasy-Reihe muss Kai nach und nach bearbeiten. Uns treffen konnten wir dank Corona bisher nicht, aber wir skypen zwei-dreimal im Monat und sind via Social Media und Whatsapp in Kontakt. In Kais Blog bin ich wieder als Chronistin tätig und werde so seinen Weg weiter begleiten.
Wir haben schon viel miteinander erlebt und voneinander gelernt. Das analoge Treffen kommt sicher auch wieder, sobald die Pandemie uns nicht mehr davon abhält. Inzwischen bleiben wir digital real.
Titelfoto: Benedikt Geyer
Fahrradfotos: Kai-Eric Fitzner
Sonstige Artikelfotos: Annette Schwindt
Ein Beitrag von Annette Schwindt zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig