Es ist nicht lange her, da fiel mein Blick auf eine Mitteilung in einer norwegischen Facebook-Gruppe für ÜbersetzerInnen. Dort wurde nach einem/r ÜbersetzerIn für die Sprachrichtung Deutsch-Norwegisch gesucht. Es drehte sich wohl um eine „Graphic Novel“ oder etwas ähnlichem – so genau konnte ich es nicht herauslesen. Bei Interesse sollte man sich an Marie mit der Telefonnummer soundso wenden.
Warum nicht, dachte ich mir. „Graphic Novel“ hört sich spannend an, und es gibt ja zurzeit, dank unserer bisherigen Freundin, der Künstlichen Intelligenz, sowieso so gut wie nichts zu tun. Besagte Freundin hat sich, nur so nebenbei bemerkt, „selbständig“ gemacht, die Freundschaft gekündigt und sich von der echten Intelligenz verabschiedet: und mir die Jobs geklaut.
Aber in einer Facebook-Gruppe ernsthaft nach einer Übersetzungshilfe suchen? Es gibt ja immer noch die guten, alten Verbände mit Namenslisten über die seriösen KollegInnen unter uns. Konnte dies überhaupt eine seriöse Nachfrage sein? Mir schwante Krudes.
Aber dann dachte ich auch: Es kann ja nicht schaden. Es könnte vielleicht sogar eine lustige Geschichte werden. Nun, ganz so lustig wurde sie nicht, aber dazu später mehr.
Zunächst habe ich Marie eine SMS geschickt, in der ich mich kurz präsentierte und mein Interesse kundtat. Die Antwort war etwas zurückhaltend, eine Zusendung früherer Übersetzungen von mir wurde zunächst erwünscht, da die Autorin/der Autor (bisher wurde das Geschlecht, das Alter und der Namen geheim gehalten) auf das „Sprachbild“ sehr bedacht sei. Sie/er wollte jemanden finden, die/der ihren/seinen Stil ins Norwegische übertragen konnte.
Ich antwortete, dass diese Thematik eigentlich die wichtigste überhaupt sei, wenn wir über Übersetzungen als solche sprechen, und dass wir ÜbersetzerInnen uns stets bemühen, dem Stil der Autorin/des Autors gerecht zu werden. Aber wie wollte sie oder er dies feststellen können, wenn ich ihr/ihm einen übersetzten Text von einer Fremden zusenden würde und ohne der norwegischen Sprache mächtig zu sein? Also einigten wir uns darauf, dass Marie mir ein Paar Seiten aus dem ersten (!) Buch zukommen lassen sollte. Der letzte Teil der Frage blieb unbeantwortet.
Ich wartete gespannt ganze zwei Wochen und fragte dann vorsichtig nach, ob das Projekt noch aktuell sei, oder ob sie eine andere Lösung gefunden hätte. Die Antwort kam prompt: Irgendjemand sei krank gewesen, aber jetzt wäre alles wieder im Lot, und anbei würde ich einen Auszug des Textes finden. Allerdings wollte die Mutter (!) der Autorin/des Autors zeitnah mit mir am Telefon sprechen. Würde es am kommenden Donnerstag um 11.00 Uhr passen?
Klar, kann sie anrufen, schrieb ich und dachte dabei: Oje, was kommt jetzt?
In der Zwischenzeit konnte ich den Textauszug lesen. Scheinbar ein Krimi, gar nicht sooo schlecht, allerdings fehlte die Grafik. Muss ja nichts heißen, dachte ich. Kann ja später dazukommen.
Und dann habe ich eine Liste mit Fragen für das kommende Telefongespräch erstellt. In welchem deutschen Verlag sind die Bücher erschienen? Wie stellt sie/er sich die Finanzierung der Übersetzung vor? Gibt es schon einen interessierten norwegischen Verlag? Falls ja, hätte sich die Frage des Honorars erübrigt, in Norwegen gibt es feste Honorare für Übersetzerinnen, die sogar jedes Jahr indexreguliert werden.
Pünktlich um elf rief die Mutter aus Norwegen an. Der Stimme nach hörte es sich nach einer etwas älteren Dame an. Sie sprach ein eher gebrochenes Norwegisch. Daher war die Freude groß, als ich ihr auf Deutsch antwortete (immerhin wohne ich über 40 Jahre in Hamburg). Es kam eine lange, traurige Geschichte über Krebserkrankungen und Armut. Sie ist, als sie Rentnerin wurde, zu Ihrem Sohn gezogen, der nach Norwegen ausgewandert war, und dann sind sie beide an Krebs erkrankt. Er sei eigentlich Grafiker gewesen, hat aber nebenbei geschriftstellert: Sie hat seine Bücher korrigiert, da sie früher, als sie in Deutschland lebte, Deutschlehrerin gewesen sei. Drei Bücher sind es geworden, eine Trilogie, und ein viertes sei auch fast fertig. Und er hat sogar die Klappentexte und Umschläge selbst gestaltet. (Aha, daher das Missverständnis bezüglich der „Graphic Novel“.)
An dieser Stelle kam ich endlich mit meiner ersten Frage zum Zuge: In welchem Verlag sind die Bücher erschienen?
Es gab noch keinen! Die Bücher waren, wie erwähnt, bis auf eins alle fertig. Sie hätten eigentlich gleich gedruckt werden können, wenn es nicht das kleine Problem mit der Sprache gäbe. Er wollte nämlich unbedingt, dass seine Bücher zunächst in Norwegen erscheinen sollten; sie spielten ja auch alle in Norwegen. Er hat sie aber auf Deutsch geschrieben, obwohl er des Norwegischen mächtig war, und nun gab es kein Geld für die Übersetzung. Sie hatten sogar an das norwegische Königshaus geschrieben, um Rat und Hilfe zu bekommen …
Es wurde am anderen Ende kurz still, dann ein Schluchzen, dann wieder Stille.
Sie fing sich wieder und erzählte, dass sie ihrem Sohn doch versprochen hatte, dass die Bücher erscheinen würden! Sie sind doch sein Vermächtnis. Er starb vor zwei Jahren!
Ich war zunächst perplex. Darauf war ich nun überhaupt nicht vorbereitet und musste selbst erst schlucken. Nach einer kurzen Überlegung konnte ich meine Sprache wiederfinden und ihr zunächst mein Beileid aussprechen. Danach habe ich ihr geraten, die Bücher doch als erstes einem deutschen Verlag anzubieten. Bei Erfolg könnte sich möglicherweise danach ein norwegischer Verlag finden, der die Bücher ins Norwegische übersetzen lassen würde. Und damit würde sich auch die Frage der Finanzierung lösen.
Nach dem Telefongespräch bekam ich eine Dankesmeldung von Marie. Sie und ein paar andere norwegische Frauen hatten der Mutter ihre Hilfe angeboten, ohne vom „Tuten & Blasen“ des Bücherherausgebens eine Ahnung zu haben. Sie waren mir sehr dankbar für meine Hilfe und hofften sehr, dass, wenn es so weit sei, ich den Übersetzungsauftrag erhalte würde. Warten wir’s ab.


Anne Braathen wohnt in Hamburg und ist Übersetzerin & Dolmetscherin für die Norwegische Sprache. Neben anderen Büchern übersetzte sie den Spiegel-Bestseller von Elke Schwarzer, Meise mag Melisse, der 2020 im Ulmer Verlag erschienen war, ins Norwegische.
Ein Beitrag zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig