Nun ist Norwegen in diesem Jahr Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, und unsereine wird dauernd gefragt: „Jetzt hast du doch sicher viel zu tun?“ Ich weiß nicht, wie die Vorstellung entstanden sein kann, daß wir nun alle mit Diplomaten und Buchhandelsvertretern Prosecco trinken und wunderschöne Pläne für Frankfurt aushecken, nein, nix davon ist wahr. Doch auch als Fußvolk haben wir etwas von der Sause: Es werden norwegische Klassiker übersetzt, teilweise erstmals, teilweise neu, die sonst nie eine Chance gehabt hätten. Und darauf will ich hier hinaus. Denn auch das ist eine viel gestellte Frage: Wie machst du das, wenn du so alten Kram übersetzt?
Ich will jetzt hier nicht auf die Technik heraus, z.B. wie ich mit Wörtern umgehe, die auch im Norwegischen heute niemand kennt. Oder die schon vergessen waren, als das Buch geschrieben würde. Darüber irgendwann mal mehr. Aber angenommen, mein Buch erschien 1910 erstmals auf Norwegisch. Dann muß ich entscheiden, ob ich Wörter verwende, die 1910 auf Deutsch absolut gebräuchlich waren, heute aber nicht mehr. Oder ob ich das Wort nehme, das heute verwendet wird. Dabei hilft natürlich alte Literatur auf Deutsch, erinnern wir nur an den unvergleichlichen Fedor von Zobeltitz mit seinem Krimstecher. Konversationslexika aus jener Zeit sind eine große Hilfe, und dann gibt es noch die reizenden kleinen Bücher, die uns ab und zu beim Rumwühlen in Antiquariaten in die Hände fallen und sich als wahre Fundgruben entpuppen.
Ich weiß nicht viel über Oskar Kresse. Er muß ein Mann mit vielseitigen Interessen gewesen sein, zu seinen Werken gehören „Die Überwinder des Todes“ von 1910 – wenn ich die Verlagsanzeige richtig verstanden habe, irgendwie spiritistisch inspiriert – und „Weltfriede nach dem Weltkriege“ von 1915, worin er darlegt, wie Europa nach dem deutschen Sieg neu geordnet werden soll (nebenbei: In der Schule habe ich gelernt, daß der Begriff „Weltkrieg“ in Deutschland erst ab ca. 1925 verwendet wurde; es ist irgendwie beruhigend, zu sehen, daß man wirklich nichts glauben darf, was in der Schule erzählt wird!). Und eben mein Lieblingsbuch: „Verdeutschung entbehrlicher Fremdwörter“, das erstmals 1914 erschien und dann bis 1916 mehrere Auflagen erlebte. Im Vorwort zeigt Oskar Kresse sich versöhnlich – nicht jedes Fremdwort soll weg, nur die, die einfach überflüssig sind. Als Beispiel bringt er „fair“, um alles auszudrücken, was dieses Wort beinhaltet, würde man mehrere Zeilen brauchen. Entbehrlich sind in seinen Augen aber die lateinischen Monatsnamen. Hier seine Vorschläge:
Januar: Hartung, Februar: Hornung, März: Lenzmond, April: Ostermonat, Mai: Wonnemonat, Juli: Heuert, August: Ernsting, September: Herbstmonat, Oktober: Gilbhart, November: Nebelung. Dezember: Heilmond. Warum aber, fragt sich die begeisterte Leserin, ist das Wort Juni nun gerade unersetzlich? Aber da Oskar Kresse vermutlich schon längst nicht mehr unter uns weilt und der Spiritismus auch nicht mehr das ist, was er damals war, wird diese Frage wohl unbeantwortet bleiben müssen.
Es ist leicht, sich vorzustellen, wie damals Leute in dem Buche blätterten und ausriefen: „Der Mann ist doch nicht bei Verstand! Das wird sich niemals durchsetzen!“ Denn wer hätte sich vorstellen mögen, daß so schöne Wörter wie zernieren (umzingeln), Aeroplan (Flugzeug), Perron (Bahnsteig) oder Kurant (Kleingeld) einfach aufgegeben werden könnten? Und warum haben andere von seinen Vorschlägen sich nicht durchgesetzt, wie Marschall (für Minister), Lugwarte (für Observatorium), Atzel (für Toupet) oder Stechheber (für Pipette)? Oder Bauwerkkünstler für Techniker und Weihejünger für Konfirmand? Manchmal – wie wir schon beim Juni gesehen haben – sorgt die Kresselektüre auch für arges Kopfzerbrechen. Wie kommt er darauf, daß man statt „schmusen“ hinfort „Gewinn ziehen“ sagen soll? Und er widerspricht sich, wenn er z.B. statt Emanzipation „Selbstbefreiung“ vorschlägt, statt Emanzipierte jedoch „Mannweib“ sagen möchte? Wobei er aber auch noch „Frauenrechtlerin“ gelten lassen will.
Man kann Stunden mit dem Buch im Café verbringen und die Speisekarte korrigieren, Salat bleibt, aber Tomaten heißen Liebesäpfel, sagt Oskar Kresse, und der Kellner findet das so lustig, daß er mitliest und blättert und vergißt, den Kaffee zu bringen (bleibt auch). Aber Kresses Werk ist noch ausbaufähig, wir haben ja schon den fehlenden Juni erwähnt. Im bitterkalten Lenzmond (ha! gelogen!) fragen wir uns, was sagt man statt Pullover. Daß 1914 niemand Pullover sagte, ist bekannt, also schlagen wir unter Sweater nach: Sportwams. Grandios. Die Vorfreude darauf, allen, die uns heute noch begegnen, zu ihrem feschen Sportwams zu gratulieren, schlägt um in Frust (offenbar ein nicht entbehrliches Fremdwort) bei der Erkenntnis, daß Sport ja auch ein Fremdwort ist. Und hier ist auf Oskar Verlaß: Kraftspiel. Also nicht Pullover, sondern Kraftspielwams. Kraftspielwams. Der Tag ist gerettet.
Es schleicht sich aber auch der leise Verdacht ein, ob uns nicht ein neuer Oskar Kresse guttun könnte. Erst vor wenigen Tagen hörte ich eine Buchhändlerin sich über ein „intellektuell durchdrungenes“ Buch äußern. Das Buch habe sie „geflasht“, nachdem sie erst alle Bedeutungsebenen „gecatcht“ hatte, auch wenn es stellenweise „spooky“ war. Komm zurück, Oskar Kresse, alles ist vergeben, denkt man da doch.
Aber zurück zum Kraftspielwams: Die „Verdeutschung entbehrlicher Fremdwörter“ (erschienen erstmals 1914 im Verlag von Wilhelm Rößler & Co, in Berlin O 27) ist ein unentbehrlicher Helfer beim Umgang mit neu zu übersetzenden Klassikern! Und deshalb in diesem Norwegenjahr mein festes … Vademecum, hätte ich fast gesagt, doch nein, da sei Oskar Kresse vor und er sagt: Hülfsbuch!
Ein Beitrag zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig