Was ich gerne lesen würde? Blöde Frage, natürlich die vielen ungelesenen Bücher, die sich auf Stühlen und in Ecken stapeln. Dazu alle viel zu lange vernachlässigten Lieblingsbücher, sowie einige hunderte, die ich einfach gern mal wieder lesen würde, um meine Erinnerung daran aufzufrischen. Aber neben diesen selbstverständlichen gibt es noch ganz andere Bücher, die ich nicht lesen kann, weil es sie nicht gibt.
Verschollene Bücher!
Den zweiten Band der Poetik des Aristoteles, in dem es um Komödie und Lachen ging, kann ich nicht lesen, weil er irgendwann verschollen ist. In Umberto Ecos „Name der Rose“ wird er von dem garstigen Jorge von Burgos verbrannt, weil wir ja schließlich nicht einfach so rumlachen sollen! Was in Wirklichkeit passiert ist, ist eigentlich egal, das Buch ist nicht mehr da. So geht es mir immer wieder, gerade im Mittelalter wurden offenbar grandiose Bücher geschrieben, die dann verschollen sind. Ein isländisches hieß „Guðrunarbrögð“, also „Die Taten der Gudrun“. Es scheint ein gewaltiges Rache-Epos gewesen zu sein, und der dänische Chronist Saxo Grammaticus erwähnt es um das Jahr 1200 auf Latein und „übersetzt“ den Namen Gudrun mit „Grimilde“ – schon sind wir nah beim Nibelungenlied, und ich will lesen! Geht aber nicht, verschollen. Verschollen ist auch ein karthagisches Handbuch über die Landwirtschaft, das klingt zugegeben weniger prickelnd als ein Racheepos, aber aus römischen Quellen wissen wir, dass es in alle damals bekannten europäischen Sprachen übersetzt und offenbar in jeder Lebenslage konsultiert wurde, und da wäre es doch interessant, wenigstens das Inhaltsverzeichnis anzusehen. Geht nicht, verschollen.
Bücher, die es nicht gibt!
Diese Bücher hat es gegeben. Mindestens so interessant sind dann die, die es nicht gibt, das Große Pfadfinderhandbuch des Fähnleins Fieselschweif (irgendwie entsteht der Eindruck, das karthagische Landwirtschaftsbuch mit Tips für jede Lebenslage sei so eine Art Vorläufer gewesen) wird oft zitiert und dient Tick, Trick und Track immer als Richtschnur, wir müssen uns mit Bruchstücken zufriedengeben. Meine norwegische Lieblingsautorin Sigrid Boo ersinnt in ihrem wunderbaren Roman „Herz im Glück“ ein Buch mit dem Titel „Die verhexte Treppe“. Es geht um vier Personen, zwei sind verheiratet, zwei nicht, und sie sind kreuz und quer ineinander verliebt. Die Pointe soll sein, dass man nicht weiß, wer in wen verliebt ist, und: „Der unverheiratete Mann ist ein prächtiger Mensch.“ Wer wollte da nicht sofort zugreifen und hemmungslos lesen?
Sowieso, die Titel! Im Roman „Grabgeflüster“ des irischen Autors Máirtín Ó Cadhain (über den erzähle ich an dieser Stelle bald mehr) wird hemmungslos aus einem Roman namens „Zwei Männer und eine Puderquaste“ zitiert. Der Held, Clicks, gibt uns den guten Rat mit auf den Weg: „Du musst jedes Fehlurteil und jedes Vorurteil aus deinem Geist verbannen.“ Fast ebenso schön ist der Titel „Dämmerungszöpfe“, und darin heißt es, dass wir zur Kultur streben sollen, denn „die erhebt das Gemüt zu den luftigen Gipfeln und öffnet die Feenpaläste“. Ich möchte lesen und mein Gemüt erheben lassen, aber auch, geht nicht, nicht geschrieben.
Bücher, die es nicht mehr gibt!
Dass Literatur aus dem Mittelalter verloren gehen konnte, ist ja noch irgendwie einzusehen, aber auch moderne Werke verschellen (oder was immer das Präsens von „verschollen“ sein mag). Meine Mutter hat ihr Leben lang nach der Romanserie „Josef Petrosino und die Rächer der Schwarzen Hand“ gesucht. Jede Woche bekamen nämlich meine Großeltern die neueste Folge vom Kolporteur gebracht, und die Kinder durften sie nicht lesen. Aber „Josef Petrosino“ ist verschollen, und das ist gemein. Dieses Schicksal teilt dieses Werk, das auch ich zu gern lesen würde, mit vielen Kolportageromanen, die einfach so billig hergestellt worden, dass das Papier irgendwann zerfiel. Das passierte auch Moritaten, die per Liedblatt unter die Leute gebracht wurden, und das hier ist mein Liebling, leider nur bekannt, weil der Leserbrief eines besorgten Bürgers aus dem 19. Jahrhundert erhalten ist. Er sah den Untergang des Abendlandes voraus, wenn der Pöbel sich weiterhin mit Liedern amüsieren dürfte wie diesem: „Die Geschichte eines Mannes, der bei einer Frau, die dick wie ein Walfisch war, gerne Jonas sein wollte, aber sieben Tage und sieben Nächte waren ihm zu anstrengend.“ Will ich sofort lesen, geht aber nicht. Verschollen. Aber während ich das hier schreibe, denke ich: Moment, so war das doch gar nicht? Und jetzt habe ich in vier verschiedenen Bibeln nachgesehen, und überall steht, daß es drei Tage und drei Nächte waren. Wie ging also die Moritat zu Ende? Kam ein Pastor des Wegs und sprach: „Guter Mann, es sind doch nur drei Tage und drei Nächte“, und unser Freund war froh, denn das traute er sich gerade noch zu und die Moritat nimmt ein gutes Ende? Oder wie?
Wer weiß was?
Wir sehen, die besten Bücher sind entweder verschollen oder ungeschrieben. Kennt ihr noch verschollene oder nie geschriebene Bücher, die ihr gern lesen würdet und könntet damit meine Sammlung erweitern? Oder fühlt sich gar jemand berufen, eines der hier genannten Werke zu verfassen? Bitte, meldet euch!
Ein Gastbeitrag zum Thema „Buchherstellung“, Evelyn Kuttig
Tschuldigung, zum oben Gesagten noch: ich meine natürlich Präsens, blöder Tippfehler. Aber jedenfalls hat sogar der Duden das zwar seltene, aber dennoch existierende Verb verschallen, http://www.duden.de/rechtschreibung/verschallen, hätte mir das * oben also sparen können. Verschellen gefällt mir trotzdem besser.
Das ist mir schon klar, aber es hat mal eins gegeben, sonst könnte es kein „verschollen“ geben, und wenn wir lange und oft genug das rekonstruierte Präsenz benutzen, wird es wieder eingeführt. Mit ist auch klar, daß das Präsenz *verschallen heißen müßte, zu schallen, scholl, geschollen, aber verschellen gefällt mir eben besser.
Hier muss sich der Oberlehrer leider zu Wort melden: Es kann keinen Präsenz von „verschollen“ geben, das ist nämlich ein Adjektiv!