Die Frage ist eigentlich überflüssig, gerade in Deutschland wissen wir das ganz genau. Man fragt alle Bekannten nach den Märchen, die sie irgendwo gehört haben, schreibt dieselben auf, bringt ein Buch heraus, landet damit einen Welterfolg und zerstreitet sich alsbald über die Frage, ob man bei den Märchen glättend eingreifen darf oder ob sie so veröffentlicht werden müssen, wie sie aufgezeichnet wurden. Ob Rapunzel schwanger sein darf, eben. Zerstritten sind wir aber noch nicht, und die Frage, ob die Märchen verändert werden dürfen, wurde im Sinn von Jacob Grimm schon entschieden, ehe wir auch nur drei zusammen hatten. Der Anfang ging so: Erst mal sehen, was sich so bei uns angesammelt hat. Dann überlegen, wen könnten wir fragen. Und danach warten, was kommt.
Es passierten interessante Dinge. A sagte, er würde uns so gern ein Märchen schreiben, habe nur gar keine Idee, ob wir nicht eine hätten. Wir öffneten die Ideenbüchse und schüttelten drei raus, es kam ein wunderbares Märchen. B hatte dann doch keine Zeit, hatte aber C von dem Projekt erzählt und C wollte so gern eins beisteuern. D wurde von einem Coronafall in der Familie vom Schreiben abgehalten, fand aber eine alte Geschichte, die durchaus als Märchen durchgehen konnte. Die Frage ist natürlich: Ab wann ist eine Geschichte ein Märchen? Wie viele der von der Märchenforschung herausgearbeiteten Motive und Textelemente müssen vorhanden sein?
Wissenschaftliche Definitionen klingen wunderbar, sind aber nicht immer ganz leicht zu verstehen: „Das Märchen strebt nicht nach Systematik. Alle seine Handlungselemente sind scharf bestimmt. Die Fäden aber, die zu ihnen hinführen, bleiben unsichtbar, und insofern ist von einer grundsätzlichen Stumpfheit aller Märchenmotive zu sprechen.“ * Können wir die von uns ausgesuchten Märchen in dieser Aussage wiederfinden? Keine Ahnung, wir hören gern von Leuten, die das Buch gelesen haben: Wie seht ihr das? Aber wie wäre es hiermit: „Gerade dann, wenn die Märchenhelden ganz isoliert handeln, stehen sie, ohne es zu wissen, im Schnittpunkt vieler Linien und genügen blind den Forderungen, die vom Ganzen aus an sie gestellt werden. Sie denken nur an ihren eigenen Weg – und erlösen dadurch andere. Der Märchenheld gleicht denen, die den Gral finden, gerade, weil sie ihn nicht suchen.“ Ich werde ganz gerührt, wenn ich das lese, und ja, so und nicht anders sind unsere Märchenhelden. Und die Heldinnen erst recht. Und was ist der Sinn des Ganzen? „Das Märchen kann auch nicht einfach Seinsollendichtung genannt werden. Seine Absicht ist es nicht, uns zu zeigen, wie es zugehen sollte in der Welt. Es vermeint vielmehr zu erschauen und Wort werden zu lassen, wie es in Wahrheit zugeht in dieser Welt.“
Genauso ist es, und wenn die Autor*innen in unserem Buch es vielleicht nicht ganz so ausdrücken würden, so zeigen die Geschichten doch: Ja, so ist es. Das hier sind wahre Märchen. Die Grundelemente sind vorhanden, aber immer klingt auch die individuelle Erzähler(innen)stimme durch, ob es nun ein im Juni 2020 frisch verfasstes Werk ist oder eins, das vor fast 200 Jahren von der Norwegerin Olea Crøger aufgezeichnet, aber erst im 21. Jahrhundert gedruckt werden durfte, weil ein gut erzähltes Märchen eben die herrschende Ordnung zwar nicht ins Wanken bringen, aber die Herrschenden über die Ordnung doch arg verärgern kann. Wir haben Märchen aus verschiedenen Ländern ausgesucht – ohne nun gezielt nach einem Märchen aus Land X oder Y zu fahnden, immer war ausschlaggebend, was bei uns ankam und wo wir überhaupt märchendichtende Menschen kennen, die wir fragen können. Beim nächsten Buch (das Märchenherausgeben inspiriert, man will unbedingt sofort weitermachen) machen wir alles genauso und möchten dennoch mehr Länder dabei haben. Aber ehe es so weit ist, muss das frisch erschienene Buch gelesen werden (genauer gesagt, gekauft!), und es sieht so aus:
Das Buch: Es war einmal – und ist noch immer. Märchenhafte Geschichten. Hrsg.: Karin Braun und Gabriele Haefs, Verlag Tredition, 252 S., 10,– €, ISBN 978-3-347-12455-4
Mitwirkende:
• Brigitte Beyer • Åse Birkenheier • Karin Braun • Olea Crøger • Isabelle De Col • Kersten Flenter • Martha Frei • Mick Fitzgerald • Rudolf Franz • Dörte Giebel • Michael Habel • Gabriele Haefs
• Hendrikje Hartung • Christel Hildebrandt • Marion Hinz • Ulrich Joosten • Margaret Kirk • Regine Norman • Mari Osmundsen • Erna Osland • Ness Owen • Joanna Sterling • Gudmund Vindland
*Alle Zitate von Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, A. Francke Verlag, München, 1978, 6. Auflage
Ein Beitrag von Gabriele Haefs zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig