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Wie man ein Kinderbuch schreibt (oder auch nicht)

Kinderbuch „Ein Bruder zu viel“ von Linde Hagerup, übersetzt von Gabriele Haefs, Gerstenberg Verlag 2019
Porträt von Linde Hagerup, Verwendung vom Verlag Cappelen Damm gestattet
Linde Hagerup – Foto © Verlag Cappelen Damm

Die Norwegerin Linde Hagerup ist in diesem Jahr mit ihrem Buch „Ein Bruder zu viel“ nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Hier erzählt sie, wie sie dazu gekommen ist, Kinderbücher und gerade dieses Buch zu schreiben!

Lesung von Linde Hagerup und Gabriele Haefs auf der Leipziger Buchmesse 2020 anlässlich der Nominierung von Linde für den Deutschen Jugendliteraturpreis
Lesung von der Autorin Linde Hagerup mit ihrer Übersetzerin Gabriele Haefs – Foto © Lena Kraus

Als Kind hatte ich das Privileg, dass meine Mutter Bibliothekarin war. Eine engagierte, immer lesende Person. Eine, die wirklich die ganze Zeit für gute Bücher brannte. Und die alles zwischen Himmel und Erde aus der Bibliothek mit nach Hause schleppte. Vieles war total uninteressant, aber wir lasen auch sehr gute Bücher: Die Klassiker von Astrid Lindgren, Roald Dahl, Ole Lund Kirkegaard, Alf Prøysen und Tove Jansson. Wir lasen Der geheime Garten, Wind im Mond, Pu der Bär, Die unendliche Geschichte, Die Schatzinsel, Der Wind in den Weiden und Alice im Wunderland. Lasse Myrbergets Meine unmögliche kleine Schwester lasen meine Freundin und ich uns nach der Schule ein ganzes Jahr lang gegenseitig vor, wieder und wieder, und wir schrien dabei vor Lachen.
Auf der anderen Seite des stinklangweiligen Kinderbuchs haben wir also das total phantastische Kinderbuch. Das Buch, das du nie vergisst. Das du deinen Kindern gibst. Und deinen Enkelkindern. Das Buch, das du immer wieder liest. Wir können deshalb mit gutem Gewissen sagen, dass es hier sehr weit ist von oben nach unten, und es ist also kein Wunder, dass ich es ziemlich unheimlich finde, für Kinder zu schreiben. Eigentlich macht es mir eine Sterbensangst.
Aber nicht die LeserInnen da draußen machen mir die größte Angst. Sondern ich selbst. Und doch habe ich mir irgendwann ein Herz gefasst und einen Roman für Kinder geschrieben.
Linde neun Jahre war überaus skeptisch. Sie schlug die Arme übereinander und schaute stirnrunzelnd zu mir hoch.
„Ich glaube eigentlich nicht, dass du das besonders gut machen wirst“, sagte sie.
„Reg dich ab“, sagte ich. „Das ist doch bloß ein Buch. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass es sehr schlecht wird, und dann können wir es ja einfach wegwerfen.“
„Aber du hast doch keine Ahnung von Kindern und davon, wie ein gutes Buch sein muss“, sagte Linde neun Jahre. „Du hast einfach keine Ahnung.“
„Das weißt du ja wohl nicht“, sagte ich. Ich merkte, dass mir dieses altkluge Wesen langsam auf den Geist ging. „Lass mich einfach in Ruhe arbeiten. Ich habe einen Plan, klar?“
„Ha, ha, einen Plan“, sagte sie. „Ich kenn dich doch. Ich weiß, wie du bist.“
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und war weg.
Ich schaute Linde neun Jahre hinterher und versuchte zu verstehen, was sie gesagt hatte.
Was wusste sie über Linde siebenundvierzig Jahre, das ich nicht wusste?

Kinderbuch „Ein Bruder zu viel“ von Linde Hagerup, übersetzt von Gabriele Haefs, Gerstenberg Verlag 2019Ich fing an zu schreiben. Wie immer am Anfang eines Textes: Irgendwie. Voll ins Lalaland.
Trottete hin und her, ohne zu wissen, wo es denn hingehen sollte.
Ich hatte keinen Plan. Das hatte ich bloß behauptet, um glaubwürdig zu wirken. Ich schrieb drauflos. Zuerst einen Buchstaben, dann noch einen. Dann einen Satz. Zwei Sätze. Zehn. Zwanzig. Eine Seite. Tralala.
Es ging um Sara, neun Jahre. Eine Krise. Einen Verlust, Trauer, die eine Familie trifft.
Wovon hatte Linde neun Jahre da geredet? Wie hatte sie das gemeint, dass ich nicht glaubwürdig sei? Natürlich hatte ich Ahnung. Doofe Rotzgöre.
Eine Seite. Fünf Seiten.
Plötzlich tauchte im Text eine neue Person auf. Ein gewisser Steinar, fünf Jahre. Ich hatte nicht die geringste Ahnung davon gehabt, dass dieser Junge mitmachen sollte. Aber er war also da, machte lauter Ärger und zog den Text in ganz andere Richtungen. Er machte alles unmöglich. Außerdem tat er mir leid. Sara ist nicht gerade begeistert von ihrem neuen „Bruder“, Steinar, fünf Jahre. Es ist kein besonders gutes Zeichen, wenn einer die eigenen Personen leidtun. Wenn sie mit einem Kloß im Hals dasitzt und denkt: Ich muss diese Personen retten.
Das Projekt fing an, ziemlich schwierig zu werden.
Ich spinxte zu Linde neun Jahre hinüber. Sie stand ein Stück von mir entfernt und schaute in eine andere Richtung, sie stellte sich total uninteressiert an dem, was ich da machte. Sicherheitshalber pfiff sie sich auch eins. Wie um zu zeigen, dass ich wirklich keine Ahnung hatte.
Ach was, dachte ich. Kommst du mir jetzt so?
Von mir aus.
Ich schrieb weiter.
Steinar schlug Krach und brachte den Text durcheinander. Sara erklärte ihrer Familie den Krieg. Es war ein Krieg, den sie verlieren musste. Großer Gott, was mutete ich meiner Hauptperson da zu? Das hier würde sich unmöglich retten lassen. Das hier musste schiefgehen. Es gab nirgendwo eine Lösung. Saras Leben war ruiniert, und ich war schuld.
Und ich war schon dabei, aufzugeben.
Ich merkte, wie mir der Text immer weiter entglitt. Er wurde vage, fast unsichtbar. Er wurde zähflüssig und uninteressant und hatte irgendwie kein Ziel. Es hatte einfach keinen Sinn. Linde neun Jahre hatte recht: Ich hatte keine Spur von Ahnung.
Saras Familie staunte sehr darüber, wie sie das neue Dasein anging.
Aber was war mit Sara? Ich hatte Sara gern. Ich konnte sie nicht einfach sitzen lassen, hier, mitten im dramatischsten Augenblick ihres Lebens.
Ehrlich gesagt: Doch. Eine Romanperson kannst du sitzen lassen. Die wird davon nicht traumatisiert. Schreib etwas anderes. Etwas, was du schaffen kannst. Scheiß auf das hier.
Aber was war mit Sara? Und was mit Steinar? Der arme Steinar. Und alle anderen im Buch. Ich konnte sie nicht einfach als Kanonenfutter in einem unfertigen Text ihrem Schicksal überlassen.
Hallo? Wieso denn Kanonenfutter? Spinnst du eigentlich? Löschen!
Löschen? Aber das kann ich doch nicht einfach machen!
Klar kannst du. Löschen, dann ist alles weg. Schlicht und ergreifend.
Ja? Echt?
Löschen, und dann ist alles weg?
Bestimmt gar nicht so dumm. Mach irgendwas, was du kannst.
Löschen, dann ist alles weg.
Schlicht und ergreifend.
Aber da hörte ich, wie sich hinter mir jemand räusperte. Ich drehte mich um.
Da stand Linde neun Jahre.
Sie schaute mir voll ins Gesicht. Ein winziges Lächeln, fast unsichtbar.
„Hast du’s jetzt kapiert?“, fragte sie.
„Was denn kapiert?“, fragte ich.
Sie seufzte laut und verdrehte die Augen.
„Dass ich diese Geschichte erzählen muss“, sagte sie. „Kapierst du das jetzt?“
Und also schrieb ich Ein Bruder zu viel.
Die Begeisterung für gute Literatur hörte mit den Kinderbüchern nicht auf. Linde neun Jahre wurde Linde zehn und elf und zwölf, und unmerklich fingen die Bücher, die ich las, an, sich zu ändern. Die achtziger Jahre kamen und Tove Nilsen schrieb Wolkenkratzerengel, Lars Saabye Christensen gab Yesterday heraus. Beides waren Bücher, die mir die Lust gaben, andere Dinge zu lesen. Es war ein undeutlicher Übergang, aber er passierte.
Erst bist du Kind, dann liest du plötzlich Kafka und Bjørneboe und hast über einen gewissen Hermann Hesse gehört. So ist das.
Kind zu sein, dauert nur einen Augenblick.
Für den Rest deines Lebens bist du erwachsen.
Aber immer, immer bist du Mensch.

Linde Hagerup: Ein Bruder zu viel, deutsch von Gabriele Haefs, Gerstenberg Verlag 2019

Ein Beitrag von Gabriele Haefs zum Thema „Buchherstellung“, Schwarzaufweiss Evelyn Kuttig


Ich freue mich, wenn Sie diesen Beitrag weitersagen:
Gabriele Haefs

Gabriele Haefs

Gabriele Haefs hat Volkskunde, Sprachwissenschaft, keltische Sprachen und Skandinavistik studiert, liebt alle Fächer gleichermaßen und springt deshalb beim Übersetzen und Schreiben dazwischen hin und her. Sie wohnt in Hamburg und würde gern noch eine Sprache lernen, aber private Umstände verhindern das zur Zeit.

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